Dezember 31, 2011

senryū xx


aus der schneekugel
fällt ein name und taumelt –
heb ihn auf, warte

Dezember 29, 2011

senryū xix


zwischen den jahren
nur die zeit stehen lassen –
jegliche zeiger

Dezember 23, 2011

haiku xxiii


lied der turmbläser
leute stehen und lauschen :
licht im gewimmel

Dezember 19, 2011

senryū xviii


mit goldenem band
das jahr umarmen zuletzt :
schöne bescherung
 

Dezember 13, 2011

senryū xvii


zeile für zeile
der spur folgen, ruhelos
bis sie beginnt

Dezember 12, 2011

senryū xvi


eiliges dunkeln
sanft über straßen gelegt :
so nah die ankunft
 

Dezember 04, 2011

senryū xv


deine stimme spricht
in die stille des morgens
nimmt den traum hinfort

Dezember 03, 2011

haiku xxii


tanz der äste bar
ihrer spielenden blätter –
nackt hängt die mistel

Dezember 01, 2011

haiku xxi


die stunden am meer
gelassen dem horizont -
salz in den taschen

November 17, 2011

senryū xiv


dein blick erkennt mich
hinter nüchternen stäben
noch deine augen

November 16, 2011

senryū xiii


finger krumm machen
die sonne grüßen sowohl
ein und aus wissen

November 15, 2011

senryū xii


zwölf uhr in der stadt
ein dach aus glockenläuten –
der himmel so tief

November 10, 2011

haiku xx


wintervogels schrei
in der ersten dämmerung
nebel erwachen

November 09, 2011

haiku xix


zu abend essen
mit vater und dem bruder –
familienfest

November 07, 2011

haiku xviii


kopfüber der specht
pickt aus dem hüllblatt die nuss :
er weiß zu ernten

November 06, 2011

haiku xvii


lila orchidee
wie sie blüht tag für tag in
der luft die wurzeln

November 05, 2011

haiku xvi


stunde in rosa
furioses blätterlicht
ein weiches lächeln

November 04, 2011

senryū xi


viersprachiger mund
facht im gehege zum lied –
des wortes fündig

November 03, 2011

senryū x


für die gezeiten
ruhig ein gebet sprechen
und den tisch decken

November 02, 2011

haiku xv


noch wärmt die sonne
nachmittags tief überm weg –
eilig surrt das rad

Oktober 31, 2011

senryū ix


am abend weinen -
den freund anrufen können
und schlafen gehen

Oktober 30, 2011

haiku xiv


duftend arm in arm
sonntags im park spazieren :
dem herbst abdanken

Oktober 29, 2011

haiku xiii


am fluss zieht nebel,
legt sich blau in die stunde -
gänse im keilflug

Oktober 27, 2011

haiku xii


tag in der schachtel
zu den polen und zurück -
mahlersinfonie

Oktober 26, 2011

haiku xi


gestürzter drachen
laub in bunten etagen :
gefangen den wind

Oktober 25, 2011

haiku x


nebenan ein paar
sie stellen die räder ab –
er geht mit dem hund

Oktober 24, 2011

haiku ix


stunde im graulicht
letzte blätter an zweigen
der flamme zittern

Oktober 23, 2011

haiku viii


schilfbänder am fluss
eichlaub in tiefer sonne
im wasser die spur

senryū viii


morgenkristalle,
lichtkegel geschliffene :
gratige zungen

Oktober 21, 2011

hominisation


den tod des schakals besingen.
ihn als trophäe küren zur blutigen siegesfahne.
er bleibt rechtfertigung.
uns ein spiegel.

menschen sind.
sind so menschen.
so sind menschen.

Oktober 19, 2011

senryū vii


nachtstiller zenit
überschritten von wachen
der taucher entkommt

Oktober 18, 2011

senryū vi


insel aus morgen
versprochener atempunkt :
ach, pustekuchen


Oktober 15, 2011

haiku vii


beautiful sunset
says the girl in the s-bahn
asters in hands

Oktober 13, 2011

haiku vi


umhofter mond im
fluss und brückengeländer –
schatten im spiegel

Oktober 11, 2011

senryū v


tag ohne namen
in flüchtiger dringlichkeit
geschnellt auf papier

Oktober 10, 2011

senryū iv


den baum abschlagen
wo taube und specht mein blick :
verraten ein schloss

Oktober 07, 2011

heizen


früher
ging vater hinab in den keller
für unsre fünf zimmer kohlen zu holen
beim abstieg trug er die eimer mit asche zur tonne
den langen winter über
saßen wir abends am kachelofen
legten bratäpfel in die röhre
oder wärmten bettsocken vor 

heute
drehe ich am ventil 
stehen schalen mit wasser gefüllt auf dem rost
schlafe ich barfuß im hemd 
bei offenem fenster
und träume von äpfeln mit zimt


Oktober 05, 2011

senryū iii


auf fingerspitzen
des nachts sich ermächtigen
wachender leere

Oktober 03, 2011

haiku v


sommerfraktale
im winkelzug oktober :
wann steigt der drachen

Oktober 01, 2011

senryū ii


kapseltag landet
als larve kriecht er ans licht -
imago webend

September 29, 2011

haiku iv


aus morgen erwacht
traumspuren perlen trichternd -
tagfaserbläue

September 27, 2011

wenn ich schreibe


werde ich beckmesser
häutig
entweder oder
mir unerbittlich

schlafe ich nicht
esse ich nicht
bin ich mir fremd

wenn ich schreibe

war ich ersehnte geliebte
bezaubernd
vergebend
auf einer insel
fiel ich dir in den rücken

wenn ich schreibe

verrate ich dich
fress ich dir aus der hand
okkupierst du mich
ersuchend um einlass in gärten
sage ich du zu mir

wenn ich schreibe


September 20, 2011

haiku iii


wo baumhaselnuss
abends mit klingendem fall :
ach, da steht mein haus

September 18, 2011

für m.


mit fischen reden
am abend
wenn der wind landeinwärts lenkt
bevor dein haar trocknet

mit fischen reden
über nacht
während boote von feuern geleitet
in häfen finden

mit fischen reden
vor morgen
um deine nachricht zu flechten
in netze vor anker


September 17, 2011

nach berlin


früher
stiegen wir in den sputnik
mutter und ich
saßen oben im doppelstockzug
der stank nach urin und wir froren
er fuhr jede stunde
einmal im östlichen bogen über die dörfer
bis karlshorst
sollten stiefel kaufen oder eine winterjacke
in den rathauspassagen am alex
fiel die entscheidung auf eine hose
hauptsache passend

     heute
     nehm ich die stadtbahn im zehnminutentakt
     auf weichen bänken gleite ich warm
     über wannsee und zoo bis zum fernsehturm
     schuhe und mäntel an jeder ecke
     unfassbar teuer oder geschenkt 
     tränenpalast zieht ins museum

September 16, 2011

septemberabend


wie über die webichtkante das mondlicht eilt
uns in betrachtung versetzt
wortreich und stumm

wie sich aus dunkel umrisse zeichnen
staudenkronen mit diademen benetzt
kurzes schlagen der fledermaus

wie wir einander die hände halten
unter der alten pflaume
hälftig entkommen dem sturm

wie wir nicht fragen was war und sein wird
in dieser stunde
wir bergen die frucht

September 14, 2011

abhängigkeit


glieder
glieder an fäden
deine glieder an fäden geknüpft
glieder an fäden geknüpft und schritte im kreis
an fäden


augen
augen in höhlen
leere augen in höhlen gefangen
augen in höhlen gefangen und enge maschen
in höhlen


bühne
bühne im dunkel
verkaufte bühne im dunkel
bühne im dunkel und vorhang gefallen
im dunkel gefallen

September 13, 2011

einhalt


folgend
dem echo tonloser silben
vor stunden, eben oder tage zurück
räumtest du unser feld ohne verzicht

seitdem
   liege ich wiegend
     den mantel aus glas um die schultern
       gekrümmt auf ein bodenloses

   kriechen rinnsale wände entlang
     bleiben flügelfenster verhakt ineinander
       brennt glut entschlossen scheiben hindurch

in schwaden gehüllt
verweigere ich den anflug jeder kontur


August 28, 2011

haiku ii


mittsommer nachts blau 
federsänger dirigat - 
einander choral

August 26, 2011

Heimat


Steinplatten der unsanierten Straße
Bäume im Park von Sanssouci
Himmel meiner Stadt am Sommerabend
der braune Krug mit DDR im Boden
Pilze mit Petersilie
Suppenrezept der Mutter
und Großmutters alter Eierbecher

Heimat
im Sprechen meiner Brüder
in ihren Witzen und Ausreden
schwarz-weiße Kinderfotos
Bücher von Christa Wolf
und mein Kopfkissen

Juli 08, 2011

reise


ach, könnt’ ich schlafen und wandern
ohne zeit und begrenzung
über wiesen und inseln, auf berge, durch wüsten
könnt’ ich suchen und staunen
mit zwergen und riesen küsten entlang.

könnt’ ich sitzen an tischen
sprechen mit jedem und
sagen mir lassen das Eine.

könnt’ ich tanzen auf landkarten
spielte einer mir die melodie -
müsst’ ich nicht warten allein
zu reisen ins paradie.

Juni 04, 2011

senryū i


deine handschrift klagt
mit vermeintlicher frische 
auf wiedergutmacht


Mai 16, 2011

Wasser


Immer hatten wir gedacht, sie könnte kein Wässerchen trüben, obwohl man schon vermutete, stille Wasser sind tief. Jedoch war sie von jeher nah am Wasser gebaut. Trotzdem waren wir der Meinung, niemand könnte ihr das Wasser reichen. Aber dann geriet sie vom Regen in die Traufe und sie konnte das Wasser nicht länger halten. Schnell verwässerten sich damals allerdings die Umstände und niemand konnte mehr den Ablauf rekonstruieren. Später rappelte sie sich wieder schluckweise, bis sie fontänengleich aus dem Wildwasser stieg. Aber es dauerte nicht lange, und sie brachte abermals das Fass zum Überlaufen, sodass kaum einer trocken blieb. Wie ein Fisch im Wasser wedelte sie im nächsten Sommer wieder über die Promenade und das Vergangene kümmerte sie einen feuchten Kehricht. Zwar wirkte ihr Blick beinah wässrig, doch war das vielleicht der diesigen Morgenluft geschuldet. Nach all den Eskapaden zitterte sie nun auf ihren Wasserbeinen und schaute sehnsüchtig nach dem Horizont. Aus ihrem Haar fielen silberne Wassertropfen tränengleich auf ihre Haut. Sie musste unglaublich durstig sein. Als man ihr einen Wodka reichte, verzog sie kaum eine Mine. Sie goss ihn die Kehle hinunter wie andere sprudelndes Quellwasser. Dann lenkte sie ihre Schritte zurück zur Klinik hinter den Dünen, um sich genüsslich dem Wellenbad hinzugeben. Am frühen Abend stand ihr schon wieder das Wasser bis zum Hals, doch an eine Umkehr in ruhiges Fahrwasser war nicht zu denken. Hier und da tauchte sie ihre Fingerspitzen in Dinge, die sie nichts angingen. Dass ihr eisige Blicke folgten, perlte förmlich von ihr ab. Offenbar hielt sie diese für schäumende Wellen der Bewunderung. Doch die einst uferlose Verehrung war längst mit den Gezeiten verebbt und in die dunklen Sphären der Tiefsee gesunken. Bis heute scheut sie ein reinigendes Gewitter wie der Teufel das Weihwasser.


März 28, 2011

perfekt


das alles ist noch eingepflanzt
in meinen wachen atem
ein heller irrtum
es sei ausgerissen
überwuchert
hingelassen
nach sieben regen eis und licht

das alles glaubte ich verloren
getaucht in reife kammern
mit seiden ausgeschlagen
netzumwunden
festgezurrt

nur einmal umgeblättert
dem welken grün mit geste salutiert
nimmt jener duft mich müde zu sich
und fruchtet
wo er nie erblüht

Februar 19, 2011

grenzland


du kannst es sehen. es ist bunt und duftet. kannst es hören. melodien malen dir bilder. wirklicher als regentropfen auf rissiger haut. du bleibst stehen. im visier die grüne brücke, über die du nie gehen wirst. du bist keine agentin, deinem schweigen zum trotz. niemand löst dich aus. zahlt für dich. weder hier noch auf der anderen seite. die schwäne am ufer kümmert es nicht. zur not werden sie fliegen. voraus auf dem berg die ampel blinkt dir den sehnsuchtscode. grenzland. jede verheißung vertraust du ihm an. doch betreten wirst du es nicht ohne verrat. 

dein spiegelbild in schwarz-weißem nebel. wer bist du? hinter der maske gehst du spazieren in wäldern. was du findest, nennst du beim namen. grenzland. sie vergaßen stufen zu bauen für dein puppenhaus. mit aufzügen fährst du in falsche etagen seither. dein oben wird unten und auf der hälfte nimmst du die bahn. einem vierten horizont entgegen. am kopfbahnhof steigst du aus. sie müssen rangieren. du gehst in die fremde stadt. hier bist du geboren. hinter fassaden schimmern paläste. in fenstern erkennst du wiegende tänzer. phantome halbieren die luft und feiern heimlich ein fest. ihre einladung hast du ausgeschlagen, aber du sagst es noch nicht. die freiheit nimmst du dir. lässt es zu, dass sie dich glücklich nennen und willst sie nicht kränken. beinah glaubst du ihnen, doch wächst dein verdacht. dann machst du tabula rasa und verlässt den gedeckten tisch. künftig wirst du alleine essen. kartoffeln mit schale und kümmel. dein gegenüber wischt sich den mund, immerhin. 

grenzland. du suchst einen garten und wartest am fluss. womöglich treibt er vorüber oder du nimmst eine düne in obhut. irgend festland im rücken. dann steht einer vor dir, barfuß, greift deine hand. er ist schön, ein versprechen. du glaubst, ihn zu kennen. ihr geht durch die dunkelheit. steigt einen turm hinauf, glasperlen im schein der schwarzen sonne zu sehen. stufen brechen ein unter euch und ihr lacht. ihr braucht kein zurück. doch schweift er ab, fragt dich nach feuer für seinen weg. du machst ihm licht, damit er nicht stolpert. schaust ihm hinterher und fürchtest dich nicht. du bleibst. 

grenzland. wach auf. vorbei dein heute. mit kusshand drehst du kalenderblätter und schlägst dir verstohlen den sand aus den augen. millionen breiten die flügel aus. eine kamera öffnet den weg über die brücke. du gehst, deine einfalt im handgepäck. auf der anderen seite empfängt dich fallendes laub. niemand hätte gedacht. du machst alberne sprünge. die gefahr scheint gebannt und du ahnst, es ist wahr.